Thomas Zaunschirm

Peter Sengls Bild-Texte


Das Œuvre des österreichischen Malers eröffnet unseren Blicken ein herrliches Panorama des Schreckens. Peter Sengl stellt mit seinen kulinarisch aufbereiteten Ausblicken die Sehgewohnheiten auf den Kopf. Er ignoriert geradezu die traditionellen Grundbedingungen der Gattung Malerei. Der Rahmen, der Bildraum, das Verhältnis von Figur und Grund, die lineare Zeichnung, die Farben, die Motive der Menschen und Tiere, sie alle sind in immer neuen Varianten vorhanden, aber gewähren keine Orientierung, auf sie ist kein Verlass. Das ist vielleicht am schwersten zu verstehen, es geht um Malerei, die nur scheinbar die Erwartungen an Malerei erfüllt, sie eigentlich immer wieder enttäuscht. Das unerklärliche Hochgefühl, die betörende Ästhetik unterläuft in virtuoser Manier die von Vorurteilen geleiteten Wahrnehmungen der Rezeption. Es liegt daran, dass die Bilder sich einem doppelten Zufall verdanken, dem kompositionell unkalkulierbaren Geschehen der Grundierung und zweitens den Launen der assoziativ gewählten Inhalte, die aufs immer neue zueinander finden.

Darin liegt ein Suchtfaktor. Das alles ist einem scheinbar vertraut, da gibt es einen hohen Wiedererkennungswert, auch wenn sich bei genauer Analyse die Bilder nicht ähnlich schauen, sondern bemerkenswerte Unterschiede aufweisen - nicht im Sinne einer eher zeitlupenhaft stattgefundenen Entwicklung, in der sich nicht viel ändert, sondern in der narrativen Struktur. Das Wohlgefühl angesichts dieser Bilderflut verlangt den Nachschub. In diesem Sinn sind die Bilder paradoxerweise nicht autonom, sie gehören alle zusammen. Wer ein Bild besitzt, braucht deren mehrere. Es soll Sammler geben, die nicht aufhören können, ihren Senglschen Fantasie-Fundus immer wieder zu ergänzen. Wie ist das zu erklären?

Zum ersten Faktor. Im Malprozess stellt Peter Sengl die Abstraktion in Frage. Das Abstrahieren der Realität stellt er auf den Kopf, indem er auf dem Grund abstrakt-gestischer Schönmalerei seine Wirklichkeiten erfindet. Es wäre schade um die zahlreichen herrlichen informellen Bilder, die kaum jemand je gesehen hat, weil er sie im Übermalen vernichtet und dann konkretisiert, wenn er damit nicht das Steuer herumreissen würde, indem er das Kommando über die Fantasie übernimmt, statt sie den Betrachtern zu überlassen. Das Schöne des Grundes bliebe beliebig in seinen Inhalten, wenn er es als endgültige Gemälde stehen ließe. Sengl aber formuliert sie völlig neu und diszipliniert das sich daran entzündende Kolorit zu frischer Blüte. Seine Technik des Übermalens verunklärt nicht das Gesehene, sondern schafft erst die Übersicht. Er will der Farbe nicht alle Freiheiten lassen, genauso wenig wie den Formen, die er in den Dienst der Erzählung stellt. So reduziert er die Anzahl willkürlich wirkender Flecken auf eine überschaubare Anzahl, die wie beiläufig stehen geblieben sind und an das Dahinter erinnern. Manchmal verweist Sengl auch im Titel auf dieses Geheimnis informeller Flecken: „M. Butterfly mit entsprechender Kopfbedeckung (13 Flecken suchen einen Hintergrund)“; „Informeller foxiger Blick (Hundeschattengrau)“ (beide 2003); „Blauschläfentanzsprung (Teufelhörnerinformeltarnung)“ (2004, Abb. 1). Eine Attitüde informeller Zufalls-Gestik, die herabrinnenden Farbspuren, greift er humorvoll auf, so als ob auch ihm diese Art von "Fehlern" ausgerechnet bei seiner genauen, antiabstrakten, mit illusionistischen Effekten angereicherten Malweise widerfahren könnte.




Abb 1.

Die Bildtitel sind ein eigenes Kapitel seiner Malerei. Sie stellen eher Fragen, als dass sie die Rätsel beantworten. Dass - frei nach Pirandello - „13 Flecken einen Hintergrund suchen“, ist eher unwahrscheinlich, wir wissen auch nicht sofort, ob sie vom übermalten, nicht mehr sichtbaren Hintergrund stehengelassen wurden, oder ob sie als neu aufgetragene Flecken darauf verweisen, dass darunter das Chaos herrscht. Vielleicht wurde aber auch ein anderes Bild übermalt, das dem Künstler aus unerfindlichen Gründen nicht mehr gefiel. Dann wird ein Bild zum Grund für ein anderes, was metaphorisch für das Verhältnis von Bewußtem und Unterbewußtem gelten könnte. Die mehrschichtigen Bildtitel verweisen nicht nur auf die miteinander verschränkten sichtbaren Inhalte, sondern vielleicht auch auf das Verhältnis der Schichten zueinander.
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Bilder sind natürlich keine Worte, nicht einmal Sätze und Texte. Deshalb wird in einer Zeit inflationär neu ausgerufener Kanonbildungen darauf verzichtet, das schönste Bild zu küren. Bilder sind mehr als tausend Worte, oft ist aber auch ein Wort auf unendlich unterschiedliche Weise auszudeuten. Das schönste deutsche Wort wurde 2004 aus 22838 Einsendungen gekürt. Man entschied sich nicht für das beliebteste „Liebe“, für „Geborgenheit“ oder „Augenblick“ - der bekanntlicherweise „verweilen soll, denn er ist so schön“, sondern für "Habseligkeiten". Dabei ignorierte man großzügig den etymologischen Fehler der „Seligkeit“. Das „selig“ kommt nämlich von „sal“, wie in „Mühsal“ oder „Trübsal“. Hätte man sich, eingedenk dieser Bedeutung, auch dafür entschieden? Peter Sengls Bilder sind keine schönen Worte, über die man leichtfertig urteilen könnte. Vielmehr bezeichnet sein Inventar die „Geborgenheit“ der ins Gedächtnis schießenden „Augenblicke“, in denen er mit Liebe seine "Habseligkeiten" versammelt. Unterschwellig verweist diese Struktur auf das erwähnte aktuelle kollektive Sprachbewußtsein. Seine Habseligkeiten bestehen aus den Prototypen seines alter ego Susi, mit der er seit vier Jahrzehnten lebt, seines eigenen Spiegelbildes in den Rollen als Dandy und Lebemann, eines Zoos aus wilden Katzen, mehr oder weniger edlen Hunden, umherflatternden Papageien, Affen und Raubtieren, aber auch den im Atelier versammelten afrikanischen Masken und nicht zuletzt dem Fundus seiner kunsthistorischen Vorlieben und Fotos, die er in Büchern aufbewahrt und deren Etymologie ihn ebensowenig interessiert. Die Wahrheit ist hier kein Stolperstein. Sengl verkauft die Seele der Motive für den überraschenden Effekt.
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Die wenigsten ertragen eine (etwa geometrische) Logik informell-abstrakter Bilder. Sie vertrauen lieber dem ästhetischen Chaos, wenn es denn einer persönlichen Handschrift (mit Wiedererkennungswert) entspricht. D. h. wenn man ein paar schriftartige Kratzer als Cy Twombly identifiziert, dann wird das nicht mehr als Striche sondern als Künstlerpranke beurteilt. Die Betrachter empfinden das als immer wieder errungene kleine Siege über die ubiquitäre Unwissenheit. Man geht durch eine Ausstellung und ist nicht mehr gezwungen, auf die Hinweise auf den kleinen Schildern zu stieren. Der Nachteil für die Künstler liegt auf der Hand, sie müssen letztlich diese Erwartungen einer identifizierbaren Handschrift erfüllen, wollen sie nicht enttäuschen. Da die informellen Gründe Sengls niemandem bekannt sind, kann er sie getrost in ihrem jeweiligen Durcheinander belassen. So kann er sich völlig freispielen und muss in dieser Schicht auch den Farben keinen disziplinierenden Zwang auferlegen. Analog vermeidet Sengl - das ist der zweite Faktor - auch im Inhaltlichen die narrative Logik. Er erzählt genausowenig, wie er in dem Malgrund anderen als zufälligen Farbmischungen und -kontrasten nachspürt.




Abb. 2

Wollte man indiskret sein, führen manche Motive in die emotionellen Erfahrungen des Künstlers. Dann sind die Figuren verspannt und verschraubt in ihren eigenen Ängsten,Bedürfnissen und Erinnerungen. Die Bilder werden immer wieder zum Aufführungsort kleiner Theater-Miniaturen, die spontan entworfen und geprobt werden, ohne dass jeweils dafür ein Drehbuch erarbeitet worden wäre. Sengl notiert keine Ideen und Einfälle, sondern malt sie sogleich "alla prima". Was wie das Glück eines durch Training und Disziplin erreichten Schwebezustandes wirken mag, enthüllt sich als akrobatische Einlage und Performance: „Mit vier Katzen durch Blau fahren“ (Abb. 2); „Affentanzhaltung nach Neapel, des Gelbs wegen (Handpuppengrün) (Gemalt am Tag: Zum hängenden Sein)“ (Abb. 4) (beide 2004). Wo der Raum keine Festigkeit mehr zu bieten vermag, weil er nicht mehr konstruierbar ist und sich - allen Grundlinien zum Trotz - als konventionelle Täuschung offenbart hat, da werden die Sicherheitsseile gespannt. Der Preis dafür ist das Gefangensein der eigenen Existenz.




Abb. 3

Manchmal erlauben die sprachlichen Hinweise einen Blick hinter die Kulissen. Wenn sich Susi in orthogonaler Verschränkung zugleich verbirgt und verwahrt, dann droht die Gefährdung durch „Schwabs Hundemund enthören (Bulldogzungenversteck)“ (2004, Abb. 3). In der Kampfhundphysiognomie wird nicht jeder den Dichter Werner Schwab (1958-1994) zu identifizieren wissen und spekulative Schlüsse ziehen. Im Rückblick kommt es nicht auf die Genauigkeit der Erinnerung an, sondern auf die ästhetische Glaubwürdigkeit der akkumulierten Posen. Konsequenz beruht im Lebensentwurf aufder prekären Hoffnung, dass die irgendwann einmal getroffenen Entscheidungen richtig waren. Sengl macht das Rollenspiel Freude, weil in den Vorlagen die Brauchbarkeit bereits durchgespielt wurde.

Der Affe als traditionellesZeichen der Nachahmung auch in der Kunst kann dabei die Aufgabe derstabilisierenden Halterung übernehmen, wenn im Tanz Fred Astaires einmal die geschwungene Partnerin, ob Eleonor Powell oder Ginger Rogers oder Susi in Blond, die Haltung verliert: „Affenseiltanzhaltung...“ (Abb. 4)




Abb. 4

Dass es mehr um Positionen als um Symbole geht, macht ein Deutungsrepertoire unbrauchbar. Hunde und Katzen sind nicht nur Haustiere, sondern auch Kuscheltiere, Schlangen spielen nicht auf den Sündenfall an, sondern sind in ihrem Verschlingungspotenzial interessant. Überhaupt gibt es nichts zu entschlüsseln. Geständnisse des Künstlers übernimmt er nicht selbst (in Autoporträts), sondern projiziert sie auf andere, wie Frida Kahlo (1907-1954), die sich als leidende Künstlerin besser dafür eignet. Mit der feministischen Kultfigur hat er sich immer wieder befasst. Was Sengl wirklich bekennt, das kann man in den Titeln nachlesen, wenn man sie denn versteht: „Lupe Marins Fridaverdeckung (Linksschulter Tlazolteoltlbelastung) (Diego Riveraentgelbung)“ (2004, Abb. 5).




Abb. 5

Aber was meint er denn nun mit der „Entgelbung“ des Künstler-Gatten Rivera, und um welche „Lupe“ mag es da gehen? Natürlich handelt es sich nicht um eine "Lupe", sondern um das Porträt, das Diego Rivera von Lupe Marin 1938 gemalt hat, wovon noch die Haltung Fridas und die Reste des Fensterkreuzes Zeugnis ablegen. Es handelt sich nicht nur um eine Paraphrase des Selbstporträts, sondern um den Blick des (Künstler)Mannes auf seine Frau (als Selbstporträt). Immer verschränken sich dabei Begriffe, überlagern sich die Sinnschichten bis zur Unkenntlichkeit und ersetzen die eigenen Fragen nicht. Warum ist Fridas Kopf wie ein Fetisch genagelt? Was hat sie doch für („lupenmäßige“) Riesenhände. Wann und wodurch wird das Gleichgewicht zwischen den mandorlahaft angeordneten Köpfen auf der linken und rechten Seite gestört? Solche Fragen sind zugleich die malerischen Antworten, weil sie die Aufmerksamkeit strukturieren. Wie sagt Sengl ganz richtig? „Dem Hirn entspringt der Fächer doppelt“ (2004, Abb. 6) Alle Artistik ist eine Kopfgeburt und die Aufführung folgt dem Gesetz des Präsentierens und Verbergens zugleich, einer doppelten Strategie, wie sie dem Accessoire des Fächers entspricht.




Abb. 6

Es ist leicht und macht Spaß, mit den Bildern zu kommunizieren: „Ernst auf Ernst - was macht der Ernst - ein tigriges Gesicht (Masken aller Bilder vereinigt euch zur Vesakhfeier)“ (2002, Abb. 7). Man muss nicht wissen, was eine „Vesakhfeier“ ist (Vesakh, das Vollmondfest, ist der größte buddhistische Feiertag), um einzusteigen in das kindlich-heitere Spiel des „Ernst auf Ernst“. Wie gesagt, wenn einem das einfrierende Lächeln nicht hier gelingt, dann vielleicht im nächsten Akt der farbwechslungsreichen Motivkombinationen der Senglschen Dramulette.




Abb, 7

Thomas Zaunschirm
Professor für Neuere Kunstgeschichte/ Kunstwissenschaft. Leiter des Institutes für Kunst- und Designwissenschaften (IKUD) an der Universität Duisburg-Essen. Zahlreiche Bücher, zuletzt erschienen: „Im Zoo der Kunst“ (KUNSTFORUM International 174, 175; 2005)


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